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Nachwort


Kinder des Films



Sie war sofort da: die Verwertungsneurose, von der ja die meisten Schriftsteller befallen sind. Man lernt einen ungewöhnlichen Menschen kennen, und der erste Gedanke ist, etwas daraus zu machen. Präziser formuliert: einen Text zu produzieren. Eine ruinöse Praktik, übrigens auch sich selbst gegenüber.

Im vorliegenden Fall aber ging es um Anna, eine ungewöhnliche Frau, die wir zu sehr später Stunde in einem Münchener Bierlokal kennenlernten. Sie bot uns Bücher an, für die sie keinen Platz mehr hatte, weil sie ihr Wohnzimmer in einen Medidationsraum umwandeln wollte. Wir luden sie im Gegenzug zum Essen ein. Und zeichneten gut drei Stunden Gespräch mit ihr auf. Für Anna eine sehr ernsthafte Angelegenheit, denn sie fand, dass sie etwas zu sagen habe, und dass es unsere - berufsbedingte - Aufgabe sei, das Gesagte in Stein zu meißeln.


Dass Anna im besten Sinn keine normale Frau ist, war schnell klar. Sie fing an zu reden, und schon lag ihre surreale und tragikkomische Welt wie eine Landkarte auf dem Wirtshaustisch zwischen uns: mit zahlreichen unvermessenen Flecken, die von seltsamen Wundergestalten bevölkert waren. Anna redete von echtem Adel und von der Parapsychologie, von Auserwählten und Luftgeborenen, vom kürzesten Tag im Jahr und von Hollywood, dem totalen Totemgedicht, der Kantine der Götter, von Sex und der Schlacht um die Thermopylen. Sehr konfus, aber nicht wirklich ohne Zusammenhang. Langsam aber stetig fügten sich die Bilder zu einem Film, und je länger Anna sprach, desto deutlicher wurde, dass es sich um einen Horrorfilm handelt, dass wir die Kinder des Films sind, und dass hinter dem fragmentarischen Wortschwall Annas das zunehmend klare Bild eines Menschen steht, der bereit ist, in diesem Film als alles überstrahlende Heldin unterzugehen.


Das Gespräch verlagerte sich vom Wirtshaus in Annas Wohnung, wo ihre Gesten der Zuneigung und der Rettungslosigkeit dramatische Formen annahm. Wir sind uns einig, dass wir diesem Finale nur deshalb einigermaßen standhielten, weil wir uns am gleichmäßig und unbeeindruckt laufenden Diktiergerät festhalten konnten, von dem wir glaubten, dass es hinterher alles erklären würde.


Die Bänder waren ein Großteil des Materials, und uns blieb, die Fülle dieses Materials zu sichten und zu destillieren und mit Hilfe einer literarisch tauglichen Architektur einen Text zu schaffen, der jenseits der schriftstellerischen Verwertungsneurose Annas Haltung, mit dem Wahnsinn menschlicher Existenz umzugehen, transportiert. Vor allem wollten wir das Grotesk-komische, das Heitere und Menschenfreundliche an Anna, ihre Art, uns Halbherzige zu beschenken, zur Geltung bringen. Insofern mußte es eine verspätete Liebeserklärung an Anna werden. Eine Hommage an eine Frau, die etwas von Don Quijote hat, und die man deshalb lieben muß. Mittlerweile ist Anna verschollen, und aus der Distanz von zwei Jahren ist uns nicht mehr klar, ob sie jemals existiert hat. Sie, die behauptete, durch Mauern gehen zu können.


Wir haben uns jedenfalls Mühe gegeben, denn, um mit Anna zu enden: "Machtworte, schlampig ausgesprochen, können ungeheure Dinge auslösen."



Arno Geiger / Heiner Link, im April 2001