Tanja Dückers



Geboren 1968  in Berlin
Freie Autorin, Lebt in Berlin
Buchveröffentlichungen:
"Morsezeichen", Bonsei Verlag Berlin, 1997,
"Fireman", Bonsai Verlag Berlin 1997,
"Spielzone", Aufbau Verlag, Berlin, 1999

Der Text "Die Nacht" erschien erstmals in
"Trash-Piloten, Texte für die 90er", Reclam Verlag Leipzig, 1997
 

Die Nacht                © Tanja Dückers
 
 

Sarah gießt noch etwas Tee ein, dann setzt sie sich wieder auf ihren Stuhl, der mit roten Samtstoff bezogen ist, schlägt ein Bein über das andere. Auf dem anderen mit rotem Samt bezogenen Stuhl sitzt Georg. 
"Und worüber schreibst Du Deine Magisterarbeit?" 
Georg rückt dichter an sie heran, Sarah lächelt, dann beginnt sie: 
"Über die Entwicklung des Buchdrucks, es geht mir auch besonders um Buchdekorationen...".
"Ach, das klingt ja ziemlich interessant...".
Sie reden noch zwei weitere Stunden. Immer wieder wirft Sarah einen Blick auf Georgs Beine, seinen Po, wenn er aufsteht, um auf die Toilette zu gehen, neuen Tee aufzusetzen oder wie eben, um das Küchenfenster zuzumachen, als draußen gerade eine gröhlende Proll-Gruppe vorbeizog. Natürlich guckt sie immer rechtzeitig wieder weg. Als es zehn vor eins ist, sagt Sarah: 
"Ich glaube, ich muß jetzt langsam ins Bett...".
Sie weiß nicht, wie sie Georg zum Bleiben auffordern kann, es geht einfach nicht, jede Andeutung wäre fatal, einfach nur dreist. Georg nickt sofort und sagt: 
"Na, dann werd ich mich mal...vom Acker machen...damit ich noch die letzte U-Bahn kriege, ne...".
Aber er erzählt dann noch eine Weile davon, wie er bei seiner Mutter im Garten Obst gepflückt hat, und daß es sehr schön ist, daß man in Berlin auch sowas haben kann, seine Mutter wohnt in Westend, und daß er jetzt quasi jeden Tag sich Pflaumenkuchen machen könnte, er würde ihr ja auch gerne mal was davon vorbeibringen. Schließlich um zwanzig nach eins zieht er sich seine braunen Halbschuhe an, die er sofort an der Tür ausgezogen und unter Sarahs Bänkchen gestellt hat.
Sie verabschieden sich. Als Sarah in der Tür steht, spürt sie ihren Puls durch ihren Körper hämmern, ihre Hände werden feucht.
"Na, dann...komm gut nachhause...und mach's, mach's gut,ja?"
"Ja, viel Glück morgen bei...beim Arbeiten", sagt Georg.
Dann schließt Sarah die Tür. Fast ist sie doch ein bißchen froh, daß Georg gegangen ist, da sie die Verabredungen mit ihm immer sehr anstrengen. Sie achtet immer auf jedes Wort, das sie sagt, und ist ständig beunruhigt, daß ihr Kajal oder ihr Lippenstift verschmieren könnte. Nun kann sie in Ruhe Wasser in ihre Badewanne laufen lassen und sich über den Abend genau Gedanken machen und ihr Tagebuch schreiben.
Sie schlendert in ihr Schlafzimmer, streckt sich etwas erschöpft auf dem Bett aus. Das hätte sie ja nicht gedacht, daß Georgs Schwester magersüchtig ist. Was man wohl daraus für Rückschlüsse auf die Familie machen kann. Georg scheint ja ein recht enges Verhältnis zu seiner Schwester zu haben.
Plötzlich klingelt es. Sie fährt zusammen. Wer kommt denn jetzt noch vorbei? Sarah zieht schnell ihre Bluse wieder an und geht zur Tür. 
"Wer...wer ist denn da?", fragt sie zögerlich.
"Ich...entschuldige...ich bins nochmal".
Das ist Georgs Stimme. Sarah zuckt zusammen. Sie weiß nicht, ob sie sich freuen oder erschrecken soll. Jetzt hat sie sich schon abgeschminkt und eben ist eine Laufmasche in ihre mausgraue Seidenstrumpfhose gerissen.
"Ja, äh, komm rein."
Sie öffnet die Tür. Georg sieht sie etwas unsicher an und beginnt dann:
"Die letzte U-Bahn ist gerade weg, der nächste Nachtbus kommt erst in einer Stunde, ich..ich wollte fragen, ob ich solange, vielleicht noch bei Dir?...Wenn es Dir nichts ausmacht...", Georg holt einmal tief Luft, "ich meine, vielleicht könnte ich bei Dir...übernachten, ich gehe auch morgen sofort, ich meine, ich will Dich nicht bei Deiner Arbeit stören..., ich kann mich ja hier auf die Couch legen...". 
Er hört gar nicht mehr auf zu reden. 
"Ja, das ist...ist alles kein Problem", meint Sarah. Eigentlich freut sie sich doch.
Sie hat sich heute nachmittag zweimal selbst befriedigt, "Knockin' on heaven's door" in der HouseVersion von F.M. Feat laut dazu gehört. Ihr halbes Kissen war nachher voller Speichel und ihre Suppe übergekocht. Ihre Hand war klatschnaß, und Georgs Penis, den sie noch nie gesehen hat, aber über den sie zwanghaft nachdenkt, hat sich in ihrer Scheide gesuhlt. Sie hat sich auch sein Gesicht vorgestellt, als er kam, das Zucken seiner Rückenmuskulatur unter ihren Fingern gespürt. Nur irgendwie hat das alles überhaupt keinen Bezug zu ihrem sonstigen Leben. 
Georg zieht sich auf die gleiche Art wie vor vier Stunden wieder die Schuhe aus, schnell, etwas nervös, wobei er zweimal mit dem Ellbogen an die Wand stößt, was ihm weh zu tun scheint.
Sie setzen sich wieder an ihren kleinen quadratischen Glastisch.
"Möchtest Du noch etwas trinken?", fragt Sarah.
"Ach ja, vielleicht...wenn Du auch noch etwas trinkst...".
Sarah öffnet jetzt eine Flasche Orvieto und gießt ihnen beiden ein Glas ein. Irgendwie fällt ihr jetzt wirklich nichts zu reden ein. Zumal sie sich schon gerade innerlich zurückgezogen hat und sich nicht so schnell auf den unerwarteten Situationswechsel einstellen kann. Ihr geht die magersüchtige Schwester durch den Kopf, aber so abrupt dieses Thema anzuschneiden kommt ihr etwas komisch vor.
"Und...hast Du dieses Jahr noch Urlaubspläne...ach, nein, das ist wohl mit der Magisterarbeit nicht zu vereinbaren", Georg wird leiser und bricht schließlich ab.
Sarah sagt nur:
"Ja, in den nächsten Monaten geht das eben nicht...".
"Hast Du schon die Lovis Corinth-Ausstellung gesehen?", fragt Georg sie jetzt. Das ist ein fruchtbarerer Ansatz; Sarah und er unterhalten sich eine Weile über die Ausstellung, dann noch über die Baselitz-Ausstellung und den letzten Rundgang in der Auguststraße. Sarah ist nicht immer Georgs Meinung, aber sie widerspricht ihm nur zaghaft, weil er so lange überlegt, bevor er etwas sagt, und so ernsthaft dabei wirkt, daß sie befürchtet, ihn vielleicht zu verletzen, wenn sie die Ergebnisse seines langen Grübelns so schnell in Frage stellt.
Schließlich geht Sarah alleine zu Bett. Sie holt Georg aus der alten Kommode auf ihrem Flur, die sie noch abgebeizt hat, bevor sie ihre Magisterarbeit angemeldet hat, ein Kopfkissen, ein Laken und eine Daunendecke. Georg bedankt sich mehrfach, geht noch einmal auf die Toilette, wobei er wieder Schwierigkeiten mit ihrem Türknauf hat. Sie stellt schnell das Radio an, um eventuelle Klogeräusche von ihm zu übertönen. Dann huscht Georg zurück in ihr Wohnzimmer, sagt ihr "Gute Nacht", zweimal, und nochmal "Schlaf gut", wobei er sie gar nicht richtig anschaut, sich schon halb abwendet und die Tür hinter sich schließt. 
Sarah zieht sich aus und legt sich auf ihr riesiges, schwarzes Bett. Sie streichelt sich, preßt ihre Finger an ihre Scheideninnenwände mit einer Heftigkeit, in der etwas Verzweifeltes steckt. Schließlich kommt sie, der Orgasmus, kurz, scharf, fast schmerzhaft, läßt sie erschöpft und etwas beklommen zurück. 
Sie liegt noch eine Weile lang wach, ist zu müde, um irgendeinen klaren Gedanken zu fassen, zu unruhig, um einschlafen zu können. Als sie gerade in eine Art Halbschlaf verfällt, hört sie ein eigenartiges Geräusch: Es klingt als ob jemand reden würde. Sie überlegt eine Weile, ob sie aufstehen soll oder nicht. Schließlich gibt sie sich einen Ruck und schleicht in das Wohnzimmer: Da liegt Georg auf der Couch, ein Arm hängt links herab. Er schläft ja mit nacktem Oberkörper, das hätte sie ja nicht erwartet. Jetzt hört sie es wieder, er spricht im Schlaf. Neugierig tritt sie näher.
"Ficken, endlich durchficken...hmmm...Dich an die Wand nageln...mach Deine Beine schon breit...schön breit... in Dir abspritzen...".
Sarah traut ihren Ohren nicht. Und doch kniet sie sich fasziniert vor das Bett. Nun schnarcht Georg nur noch. Sie schaut auf die Decke. Ihre Hände zittern. Sie hebt die Decke an. Georg ist nackt. Sein Glied ist mit kräftigen Adern überzogen, halb erigiert...ihre Fingerkuppen gleiten über seine Vorhaut. Ein kleiner Schauer läuft ihr über die Oberschenkel. Sie spürt ihre Halsschlagader pochen. Sie starrt auf seine Hoden. Dann, plötzlich, fäßt sie sich mit einer Hand in ihre Schlafanzughose, berührt ihre Schamlippen, ihre Klitoris. Sie beißt sich auf die Lippen. Ihre Finger bewegen sich in ihrer Scheide, sie macht ganz leise glucksende Geräusche mit ihrem Scheidensaft. Georg liegt still da, wie tot. Sarah legt ihre Hand auf sein Glied, ganz vorsichtig, eine zarte, nasse Berührung. Sie läßt einen Tropfen von ihrem Ringfinger auf seine Eichel fallen, einen zweiten auf seine Hoden. Die Tropfen ziehen lange Fäden, rinnen in den Falten seiner Hoden herab.
Sie sieht Georg noch lange an, dann geht sie langsam zurück zur Tür.
Einen Moment hat sie mit dem Gedanken gespielt, sich einfach neben ihn auf die Couch zu legen. Aber das brachte sie nicht fertig. Wer weiß, was er da gerade geträumt hat, vielleicht spricht das ja ein ganz anderer Charakter in seinem Traum, ein sexbesessenes Scheusal, das er verabscheut. Außerdem wäre es furchtbar plump, sich jetzt einfach neben ihn zu legen, wenn er aufwacht und sie dann nicht wollen würde...der Gedanke daran geht Sarah durch Mark und Bein, ist unerträglich.
Schließlich, als Georg seit fast einer halben Stunde nur noch gleichmäßig geatmet und nichts mehr von sich gegeben hat, geht Sarah auf Zehenspitzen zurück in ihr Bett. Es ist schon halb fünf, aber sie kann immer noch nicht schlafen, schließlich rollt sie ihr Kopfkissen zusammen und schiebt es sich zwischen die Beine. Mit kurzen, ruckartigen Bewegungen bringt sie sich zum Orgasmus, wobei sie ihre Finger, die eben noch über Georgs Penis geglitten waren, in den Mund steckt. 
Sie fällt übergangslos in einen tiefen Schlaf.
Um kurz vor fünf wacht Georg auf. Er fühlt sich etwas müde, einen Moment muß er daran denken, wie er sich vorm Einschlafen noch schnell einen runtergeholt hat. Das Taschentuch hat er unter das Kopfkissen  gelegt, hoffentlich vergißt er das morgen früh nicht, aber er hat Sarah, die ja so müde war und bestimmt gleich eingeschlafen ist, nicht nochmal wecken wollen, indem er aufs Klo geht. 
Ihm war eben so, als hätte er ein seltsames Geräusch aus Sarahs Schlafzimmer gehört. Ein Wispern vielleicht. Ein Seufzen. Komisch. Er steht auf und geht leise an ihre Türschwelle. Da liegt Sarah, ihre linke Brust ist entblößt, der Träger ihres T-Shirts heruntergerutscht. Leise tritt er näher. Ihre Brust ist nicht zu groß und nicht zu klein, schön geformt, ganz glatte, leicht gebräunte Haut. Er spürt, wie ihm warm wird und er einen hochkriegt. Wenn sie jetzt bloß nicht wach wird, daß wäre ja furchtbar. Da ist das Geräusch wieder. Hinter zusammengebissenen Zähnen seufzt Sarah, dabei greift sie sich an die linke Brust, und Georg sieht zu seiner Überraschung, daß ihr Kopfkissen zwischen ihren Beinen liegt. Wie das wohl dahingekommen ist, einen ganz schön unruhigen Schlaf hat sie ja. Er starrt auf ihre Beine, sie rollt sich zur Seite, die Unterhose ist ihr über den Po gerutscht. Feine Schweißperlen laufen vom Steißbein ihre Porille entlang. Er legt seine Wange an ihr Gesäß. 
Sarah rollt sich wieder auf den Rücken, atmet schwer. Fuchtelt mit den Armen, fährt sich mit der Zunge über die Oberlippe, hin und zurück. 
Georg ist heiß, er ist total verwirrt. Sein Penis stößt gegen seine Unterhose, endlich faßt er ihn an, endlich, dann bewegt er ihn, schneller, schneller, er starrt auf Sarahs Brust, am liebsten würde er sich auf sie schmeißen, ihre Beine auseinanderreißen, seinen Schwanz an ihren Oberschenkeln auf- und abreiben, reiben, reiben, in ihre Möse knallen, zack, zack, ihre weichen Scheidenwände eng um seinen Schwanz. 
Sie sitzt immer so sexy in ihren engen Röcken auf ihrem Stuhl, rutscht hin und her, nur ihr Blick schaut immer so leer durch ihn hindurch.
Georg stöhnt leise auf, beißt sich auf die Lippen, sein Samen spritzt auf das Laken, auf ihre Brust. Oh Gott, wenn sie jetzt aufwacht. Er ist außer sich vor Angst, soll er schnell weglaufen? Nein, das weckt sie erst recht. 
Er bleibt wie angewurzelt stehen, lauscht auf ihren immer noch gleichmäßigen Atem, betrachtet ihr schmales, scharfgeschnittenes Gesicht, ihre hohe Stirn; was sie jetzt wohl geträumt hat, bestimmt nicht von ihm. Vielleicht hat sie von der FangoPackung geträumt, die sie jeden Donnerstag wegen ihrem Rücken bekommt und worauf sie sich immer sehr freut.
Sie scheint nichts gemerkt zu haben. Gott sei Dank. Georg geht einen Moment erschöpft vor nervlicher Anspannung in die Knie, kühlt seine Stirn an dem kalten Messingfuß ihrer Steh-Lampe. Er fühlt in sich eine eigenartige Mischung aus körperlicher Entspannung und seelischer Anspannung, Erschöpfung und Melancholie. Endlich geht er mit unsicheren Schritten zurück zu seiner Couch. Wenn Sarah wüßte...sein Gefühl von Trauer schlägt plötzlich um in Wut, Schadenfreude.
Der Wecker klingelt unerbittlich. Es ist neun Uhr früh, Sarah hat den Wecker so früh gestellt, um gleich an ihrer Magisterarbeit weiterzumachen. Georg reibt sich die Augen. Langsam dämmert ihm wieder, was letzte Nacht passiert ist. Hoffentlich ist der Samen auf ihrer Brust total getrocknet, und sie merkt nichts. Selbst wenn sie sich über etwas Klebriges an ihrer Brust wundern sollte, wird sie ja wohl nicht auf die Idee kommen, daß er...und so weiter. Das wäre einfach zu absurd.
Sie sitzen zusammen am Frühstückstisch.
"Und worüber geht Dein neues Kapitel?", fragt Georg.
"Das zweite oder das dritte?", will Sarah wissen.
"Äh, ich glaube, das dritte...", sagt Georg. Es interessiert ihn wirklich nicht so sehr. Schließlich geht er. Er ist immer noch in dieser eigenartigen gereizten, in sich gekehrten Stimmung, die er sich gar nicht leisten kann, da er heute einen total vollen Tag hat und zu allen Überfluß sein Computer gestern abgestürzt ist.
Er geht zur Tür.
"Komm gut nachhause...also..mach's...mach's gut, ja?", sagt Sarah. 
Er traut sich nicht, auf ihre Brust in dem silbernen Rollkragenpullover zu schauen, sieht ihr betont in die Augen. Diese seltsamen blauen Augen, die ihn etwas starr ansehen. Sie sieht immer so gestreßt aus, freut sie sich denn gar nicht, wenn sie sich sehen. Wahrscheinlich wirklich nicht. Er ist bloß ein weiterer Verpflichtungsfaktor in ihrem Leben, sie ist nur höflich, das ist alles. 
Georg dreht sich um und geht die Treppen schnell herunter.
Sarah schließt die Tür ganz langsam. Sie will noch möglichst lange Georgs Schritte hören, seinen federnden Gang, ihn für immer in ihrem Gedächtnis abspeichern. Da piept ihr Drucker aus dem großen Zimmer. Sie geht langsam zurück. Für einen Moment hegt sie die wilde Hoffnung, Georg könnte nochmal zurückkommen, wie heute Nacht, aber dann fällt ihr ein, daß die U-Bahnen jetzt zügig alle drei Minuten fahren und Georg sich bald auf eine der buntgescheckten Plastikbänke setzen wird, ein Buch aufklappen und nicht mehr an sie denken wird.
Sarah legt die benutzte Bettwäsche, die Georg ordentlich zusammengefaltet hat, in ihren Wäschekorb.