Der neue Wirtschaftsminister ist eine Frau. Ich habe ihn im Zug getroffen.
Er hat nichts gelernt und kellnert in einer Kneipe in Berlin. Er ist 28
Jahre alt, und ich weiß, daß er es schaffen wird. Wenn er Wirtschaftsminister
ist, wird Zugfahren billiger, und niemand in diesem Land muß mehr
hungern. Der neue Wirtschaftsminister wird die Lösung sein für
viele Probleme. Ich glaube fest an ihn.
Die Geschichte fängt an mit Pfefferminz. Genauer gesagt, mit dem
Geruch von Velemint. Ich weiß nicht, ob Sie Velemint noch kennen;
das sind diese quadratischen Pfefferminz-Plättchen, die auf beiden
Seiten zur Mitte hin eine Mulde bilden. Sie fühlen sich sehr glatt
und poliert an und sind zu eckigen Stangen verpackt, auf denen VELE in
rot und MINT in grün steht. Das letzte Mal, daß ich ein Stück
Velemint gegessen habe, ist lange genug her, um bei dem Geruch Erinnerungen
an Zeiten zu bekommen, die genauso rein und klar waren wie das Gefühl,
das sich beim Drehen des Plättchens zwischen Daumen und Zeigefinger
einstellt, die Fingerkuppen leicht in die Kuhlen geschmiegt. Oder wie der
Moment, in dem die Wand zwischen den Vertiefungen so dünn wird, daß
man die Zungenspitze fast durchstecken kann.
Als Velemint jetzt wieder in mein Leben trat, befand ich mich
auf der Ausstellungseröffnung eines Freundes, einem Künstler,
der gerne Frauen in Unterwäsche malte, und stand an der Bar. Ich glaube,
ich wollte mir einen Mojito bestellen, eine eiskalte Mischung aus Rum und
Limettensaft, mit gestoßenem Eis und einem Zweig frischer Minze.
Hemingway hat am frühen Nachmittag damit angefangen und konnte für
den Rest des Tages nicht mehr aufhören. Ich kann das verstehen. Schriftsteller
sind sehr sensibel.
Das Mädchen neben mir fragte mich nach Feuer, und als ich
sie ansah, kam der Velemint-Geruch aus ihrem Mund. Sie war klein und blond
und hatte große, gierige Augen, die braun waren und wie Abgründe,
so daß ich einen Schritt zurücktrat, um nicht schwindelig zu
werden.
"Ist das Velemint?" fragte ich und vergaß dabei völlig,
ihre Zigarette anzuzünden.
"Nein. Das ist Kaugummi", entgegnete sie, und ich war irgendwie
erleichtert, denn sie erzählte mir von ihrer Karriere als Striptänzerin
und davon, daß sie sich auf der Bühne selbst ausgepeitscht hätte,
was ich weder aufregend noch interessant fand.
Weil ich sie unbedingt loswerden wollte, verwies ich sie mit
gewissen Andeutungen über sexuelle Vorlieben an meinen Freund, den
Künstler, der gerne Frauen in Unterwäsche malte. Fünf Minuten
darauf drehte er mir in der Luft den Hals um. Ich lächelte ihm zu
und machte eine schicksalergebene Handbewegung. Später versuchte er
es mit Strangulieren, Köpfen oder Erschießen, und als ihm keine
Hinrichtungsart mehr einfiel, trank ich meinen Mojito bis auf den Grund
aus und hatte so lange nichts mehr mit Pfefferminz am Hut, bis ich am nächsten
Tag im Zug Richtung Berlin saß; Nichtraucher, Abteilwagen. Ich kenne
Kettenraucher, die am Abfertigungsschalter des Flughafens entrüstet
"Nichtraucher" bestellen, nur um sich eine weiße Weste in die Bordkarte
stempeln zu lassen. Ich fürchte, ich gehöre dazu.
Am Fenster mir gegenüber saß ein südländisches
Mädchen mit dunklen Haaren, dunklen Augen und einem sehr hübschen
Gesicht. Es ist gut, auf einer langen Zugfahrt einem hübschen Mädchen
gegenüberzusitzen. Man kann dann von Zeit zu Zeit über den Rand
seines Buches schielen und sich auf diese Art glänzend unterhalten.
Da ihr das Spiel auch nicht fremd war, trafen sich unsere Blicke gelegentlich
im Vorüberfliegen, und wir lächelten uns an. Sie las etwas, das
ich nicht kannte, und ich las "Die Rache des Rasens" von Richard Brautigan.
Da wir beide nicht wußten, wie wir anfangen sollten, zog
sie eine Packung aus ihrer Jackentasche und hielt sie mir vor die Nase.
Es war Velemint. Ich fand das wirklich seltsam. Dasselbe passiert einem,
wenn man durch die Stadt geht und wildfremde Menschen wiederholt mit jemandem
verwechselt, den man dann kurze Zeit später tatsächlich trifft,
und manchmal ist eben der Geruch von Kaugummi ein Bote des Schicksals;
man kann sich die Zeichen leider nicht aussuchen. Auch, wenn so ein brennender
Dornbusch natürlich mehr hermacht.
Jedenfalls erzählte ich ihr von der Ausstellungseröffnung
und den Dingen, die ich mit Velemint schon erlebt hatte, und sie erzählte
mir, daß sie aus Italien stamme und jetzt Sekretärin in Mettmann
sei. Sie sagte, daß sie von dem Tisch in ihrem Büro ein Stück
Himmel sehen könne, daß sie eigentlich nach England gewollt
hätte, aber daß das im Grunde keine Rolle spiele; dieses Stück
Himmel, das sei ihr mehr als genug, man dürfe schließlich nicht
zuviel erwarten.
Wir tauschten Adressen aus, für den Fall, daß sie
mal nach Münster oder ich mal nach Mettmann kommen sollte, und am
Ende lud sie mich sogar zu einem evangelischen Kirchenfest ein, das sie
zusammen mit ihrer Kindergruppe organisiert hatte. Sie war ein wirklich
guter Mensch. Nachdem sie ausgestiegen war, dachte ich noch eine Weile
über das nach, was sie mir erzählt hatte, über Geld und
Bettler und Zufriedenheit und Habgier, und darüber, daß ich
sie gefragt hatte, ob sie ein Engel sei, weil sie Raffaela hieß und
diesen silbrigen Glanz in den Augen hatte, aber sie war kein Engel; sie
sagte das wie damals Johannes der Täufer, der auf eine ähnliche
Frage geantwortet hatte, daß er nur mit Wasser taufe, der aber, der
nach ihm komme, würde die Menschen mit Feuer taufen, und genauso kam
es.
In gewisser Weise war Raffaela also der Vorbote des Wirtschaftsministers,
und der Velemint-Geruch war der Vorbote des Vorboten. Das mag sich vielleicht
kompliziert anhören, vielleicht sogar ziemlich versponnen, aber das
war nun mal die Art, wie die Dinge ihren Lauf nahmen, in diesen Tagen.
Denn als ich auf der Rückfahrt von Berlin in demselben Zug saß
(Raucher, Großraumwagen, weil nichts anderes mehr frei war), wollte
ich gerade wieder anfangen, "Die Rache des Rasens" zu lesen, als der neue
Wirtschaftsminister hinter mir auftauchte.
Der neue Wirtschaftsminister ist eine Türkin. Er heißt
Gülsen. Gülsen bedeutet "Die Schönheit der Rose", oder so
ähnlich. Er sagt, daß wir verlernt haben zu sprechen und daß
Sprechen heilig ist. Also spreche ich mit ihm. Ich biete ihm die Hälfte
meines Sitzes an und stecke "Die Rache des Rasens" zurück in meine
Jackentasche.
Der neue Wirtschaftsminister ist sehr schön. Ich bin sicher,
er wird der schönste Wirtschaftsminister, den die Welt je gesehen
hat. Und ich bin mir auch sicher, falls Gülsen nicht Wirtschaftsminister
wird, sondern Zeitungsverkäufer, wird sie der schönste Zeitungsverkäufer
der Welt. Jetzt ist sie noch Kellnerin, und natürlich ist sie die
schönste Kellnerin weit und breit. Als ich sie sehe, fühle ich
mich sofort zu Hause. Oder wie ein Eingeborener, der zum ersten Mal nach
Disneyland kommt. Eine Mischung aus beidem eben.
Unser Dialog verlief etwa so:
Gülsen (beugt sich über den Sitz hinter mir nach vorne):
Oh. Ein junger Mann.
Ich (etwas verwirrt): Hmm. Ja...
Gülsen: Ich möchte mit dir reden. Ich rede gern mit Leuten.
Das ist wichtig. Ich gehe nämlich in die Politik.
Ich (sehr verwirrt, weil ich sie mir beim besten Willen nicht in einem
Plenarsaal vorstellen kann): Ja? Warum?
Gülsen: Ich will etwas verändern.
Ich: Das will ich auch.
Gülsen: Was machst du?
Ich: Ich bin Schriftsteller.
Gülsen: Oh. Das ist schön. Ich bin Kellnerin.
Ich: Da kannst du viel sprechen.
Gülsen: Ich will etwas bewegen.
Ich: Das tust du doch.
Gülsen: Ich brauche Macht dazu.
Ich: Kellnerinnen haben viel Macht.
Gülsen: Ich werde Wirtschaftsminister. Mit Geld hat man Macht.
Ich habe konkrete Pläne. Meine Entwürfe sind fast fertig. Sie
bauen auf dem Kapitalismus.
Ich: Ja.
Gülsen: Möchtest du ein Fremdwort wissen? Ich habe immer
ein Lexikon dabei, für den Fall, daß die Menschen, mit denen
ich spreche, ein Wort nicht kennen.
Ich: Hmm...
Gülsen: Nur Mut.
Ich: Ich weiß grad' keins.
Gülsen: Wie wär's mit Altruismus?
Ich: O.K.
Sie blätterte in ihrem Lexikon rum. Ihre Haare fielen ihr
ins Gesicht, und plötzlich wußte ich, daß sie eine Gesandte
war und nicht von dieser Welt. Sie trug eine silberfarbene Hose. In meinem
ganzen Leben hatte ich noch nie einen Wirtschaftsminister mit einer silberfarbenen
Hose gesehen.
"Du solltest besser was anderes werden", schlug ich vor. "Du
vergeudest dein Talent."
Ich meinte das durchaus ernst, weil ich wirklich bezweifelte,
daß man als Wirtschaftsminister etwas verändern konnte. Ich
sah sie eher als Anführerin einer Rebellengruppe, mit einem Säbel
in der Hand und wildem Blick, aber ich glaube, sie verstand mich falsch.
"Ich werde Wirtschaftsminister", sagte sie, und ich hoffte, daß
mir bis zum Beginn ihrer Amtsperiode noch etwas Zeit blieb. Ich hatte keine
Lust, sie nur noch im Fernsehen, in Zeitungen und auf Plakaten zu sehen.
"Gülsen Kaçar, der neue Wirtschaftsminister", würde dann
auf den Titelseiten stehen, und vielleicht würde man sich darüber
lustig machen, eine Frau als Wirtschaftsminister, dazu noch eine so schöne,
ich hätte das nicht gewollt. Lieber hätte ich gewollt, daß
sie Papst wird. Ich bin sicher, die Kirchen wären plötzlich gerammelt
voll. Jeder würde ihr abnehmen, daß sie in der Lage ist, die
Welt zu retten. Zumindest tat ich das.
"Altruismus bedeutet Selbstlosigkeit, sich für andere aufopfern",
sagte sie, und es waren noch zwei Stationen, dann mußte ich aussteigen.
"Hast du Lust, dich um meine Finanzen zu kümmern?" fragte
ich, weil ich dachte, daß das vielleicht eine gute Übung für
jemanden sei, der Wirtschaftsminister werden will. Außerdem lag mein
Kontostand weit im roten Bereich.
"Ja. Warum nicht", sagte sie, ohne nachzudenken. "Ein Wirtschaftsminister
ist genau das richtige, wenn die Finanzen nicht zum besten stehen."
In diesem Moment brach der Himmel auf, und Regen platzte von
allen Seiten gegen den Zug. Ich lächelte sie an wie ein unschuldiges
Gebet und zog meine Jacke zu. Als ich ausstieg, hatte die Welt eine andere
Farbe.
Der neue Wirtschaftsminister heißt Gülsen. Er ist 28 Jahre
alt und hat immer ein Lexikon dabei. Ihr solltet das wissen, falls Ihr
vorhabt, das Land zu verlassen. Es lohnt sich zu warten.
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