Stefan Beuse



Geboren 1967
Freier Autor, Lebt in Hamburg
zuletzt erschien:
"Wir schießen Gummibänder zu den Sternen", Reclam Verlag Leipzig, 1997

Der Text "Der neue Wirtschaftsminister" erschien erstmals in
"Trash-Piloten, Texte für die 90er", Reclam Verlag Leipzig, 1997

Der neue Wirtschaftsminister               © Stefan Beuse
 

Der neue Wirtschaftsminister ist eine Frau. Ich habe ihn im Zug getroffen. Er hat nichts gelernt und kellnert in einer Kneipe in Berlin. Er ist 28 Jahre alt, und ich weiß, daß er es schaffen wird. Wenn er Wirtschaftsminister ist, wird Zugfahren billiger, und niemand in diesem Land muß mehr hungern. Der neue Wirtschaftsminister wird die Lösung sein für viele Probleme. Ich glaube fest an ihn.

Die Geschichte fängt an mit Pfefferminz. Genauer gesagt, mit dem Geruch von Velemint. Ich weiß nicht, ob Sie Velemint noch kennen; das sind diese quadratischen Pfefferminz-Plättchen, die auf beiden Seiten zur Mitte hin eine Mulde bilden. Sie fühlen sich sehr glatt und poliert an und sind zu eckigen Stangen verpackt, auf denen VELE in rot und MINT in grün steht. Das letzte Mal, daß ich ein Stück Velemint gegessen habe, ist lange genug her, um bei dem Geruch Erinnerungen an Zeiten zu bekommen, die genauso rein und klar waren wie das Gefühl, das sich beim Drehen des Plättchens zwischen Daumen und Zeigefinger einstellt, die Fingerkuppen leicht in die Kuhlen geschmiegt. Oder wie der Moment, in dem die Wand zwischen den Vertiefungen so dünn wird, daß man die Zungenspitze fast durchstecken kann.
 Als Velemint jetzt wieder in mein Leben trat, befand ich mich auf der Ausstellungseröffnung eines Freundes, einem Künstler, der gerne Frauen in Unterwäsche malte, und stand an der Bar. Ich glaube, ich wollte mir einen Mojito bestellen, eine eiskalte Mischung aus Rum und Limettensaft, mit gestoßenem Eis und einem Zweig frischer Minze. Hemingway hat am frühen Nachmittag damit angefangen und konnte für den Rest des Tages nicht mehr aufhören. Ich kann das verstehen. Schriftsteller sind sehr sensibel.
 Das Mädchen neben mir fragte mich nach Feuer, und als ich sie ansah, kam der Velemint-Geruch aus ihrem Mund. Sie war klein und blond und hatte große, gierige Augen, die braun waren und wie Abgründe, so daß ich einen Schritt zurücktrat, um nicht schwindelig zu werden.
 "Ist das Velemint?" fragte ich und vergaß dabei völlig, ihre Zigarette anzuzünden.
 "Nein. Das ist Kaugummi", entgegnete sie, und ich war irgendwie erleichtert, denn sie erzählte mir von ihrer Karriere als Striptänzerin und davon, daß sie sich auf der Bühne selbst ausgepeitscht hätte, was ich weder aufregend noch interessant fand.
 Weil ich sie unbedingt loswerden wollte, verwies ich sie mit gewissen Andeutungen über sexuelle Vorlieben an meinen Freund, den Künstler, der gerne Frauen in Unterwäsche malte. Fünf Minuten darauf drehte er mir in der Luft den Hals um. Ich lächelte ihm zu und machte eine schicksalergebene Handbewegung. Später versuchte er es mit Strangulieren, Köpfen oder Erschießen, und als ihm keine Hinrichtungsart mehr einfiel, trank ich meinen Mojito bis auf den Grund aus und hatte so lange nichts mehr mit Pfefferminz am Hut, bis ich am nächsten Tag im Zug Richtung Berlin saß; Nichtraucher, Abteilwagen. Ich kenne Kettenraucher, die am Abfertigungsschalter des Flughafens entrüstet "Nichtraucher" bestellen, nur um sich eine weiße Weste in die Bordkarte stempeln zu lassen. Ich fürchte, ich gehöre dazu.
 Am Fenster mir gegenüber saß ein südländisches Mädchen mit dunklen Haaren, dunklen Augen und einem sehr hübschen Gesicht. Es ist gut, auf einer langen Zugfahrt einem hübschen Mädchen gegenüberzusitzen. Man kann dann von Zeit zu Zeit über den Rand seines Buches schielen und sich auf diese Art glänzend unterhalten. Da ihr das Spiel auch nicht fremd war, trafen sich unsere Blicke gelegentlich im Vorüberfliegen, und wir lächelten uns an. Sie las etwas, das ich nicht kannte, und ich las "Die Rache des Rasens" von Richard Brautigan.
 Da wir beide nicht wußten, wie wir anfangen sollten, zog sie eine Packung aus ihrer Jackentasche und hielt sie mir vor die Nase. Es war Velemint. Ich fand das wirklich seltsam. Dasselbe passiert einem, wenn man durch die Stadt geht und wildfremde Menschen wiederholt mit jemandem verwechselt, den man dann kurze Zeit später tatsächlich trifft, und manchmal ist eben der Geruch von Kaugummi ein Bote des Schicksals; man kann sich die Zeichen leider nicht aussuchen. Auch, wenn so ein brennender Dornbusch natürlich mehr hermacht.
 Jedenfalls erzählte ich ihr von der Ausstellungseröffnung und den Dingen, die ich mit Velemint schon erlebt hatte, und sie erzählte mir, daß sie aus Italien stamme und jetzt Sekretärin in Mettmann sei. Sie sagte, daß sie von dem Tisch in ihrem Büro ein Stück Himmel sehen könne, daß sie eigentlich nach England gewollt hätte, aber daß das im Grunde keine Rolle spiele; dieses Stück Himmel, das sei ihr mehr als genug, man dürfe schließlich nicht zuviel erwarten.
 Wir tauschten Adressen aus, für den Fall, daß sie mal nach Münster oder ich mal nach Mettmann kommen sollte, und am Ende lud sie mich sogar zu einem evangelischen Kirchenfest ein, das sie zusammen mit ihrer Kindergruppe organisiert hatte. Sie war ein wirklich guter Mensch. Nachdem sie ausgestiegen war, dachte ich noch eine Weile über das nach, was sie mir erzählt hatte, über Geld und Bettler und Zufriedenheit und Habgier, und darüber, daß ich sie gefragt hatte, ob sie ein Engel sei, weil sie Raffaela hieß und diesen silbrigen Glanz in den Augen hatte, aber sie war kein Engel; sie sagte das wie damals Johannes der Täufer, der auf eine ähnliche Frage geantwortet hatte, daß er nur mit Wasser taufe, der aber, der nach ihm komme, würde die Menschen mit Feuer taufen, und genauso kam es.
 In gewisser Weise war Raffaela also der Vorbote des Wirtschaftsministers, und der Velemint-Geruch war der Vorbote des Vorboten. Das mag sich vielleicht kompliziert anhören, vielleicht sogar ziemlich versponnen, aber das war nun mal die Art, wie die Dinge ihren Lauf nahmen, in diesen Tagen. Denn als ich auf der Rückfahrt von Berlin in demselben Zug saß (Raucher, Großraumwagen, weil nichts anderes mehr frei war), wollte ich gerade wieder anfangen, "Die Rache des Rasens" zu lesen, als der neue Wirtschaftsminister hinter mir auftauchte.
 Der neue Wirtschaftsminister ist eine Türkin. Er heißt Gülsen. Gülsen bedeutet "Die Schönheit der Rose", oder so ähnlich. Er sagt, daß wir verlernt haben zu sprechen und daß Sprechen heilig ist. Also spreche ich mit ihm. Ich biete ihm die Hälfte meines Sitzes an und stecke "Die Rache des Rasens" zurück in meine Jackentasche.
 Der neue Wirtschaftsminister ist sehr schön. Ich bin sicher, er wird der schönste Wirtschaftsminister, den die Welt je gesehen hat. Und ich bin mir auch sicher, falls Gülsen nicht Wirtschaftsminister wird, sondern Zeitungsverkäufer, wird sie der schönste Zeitungsverkäufer der Welt. Jetzt ist sie noch Kellnerin, und natürlich ist sie die schönste Kellnerin weit und breit. Als ich sie sehe, fühle ich mich sofort zu Hause. Oder wie ein Eingeborener, der zum ersten Mal nach Disneyland kommt. Eine Mischung aus beidem eben.
 Unser Dialog verlief etwa so:
Gülsen (beugt sich über den Sitz hinter mir nach vorne): Oh. Ein junger Mann.
Ich (etwas verwirrt): Hmm. Ja...
Gülsen: Ich möchte mit dir reden. Ich rede gern mit Leuten. Das ist wichtig. Ich gehe nämlich in die Politik.
Ich (sehr verwirrt, weil ich sie mir beim besten Willen nicht in einem Plenarsaal vorstellen kann): Ja? Warum?
Gülsen: Ich will etwas verändern.
Ich: Das will ich auch.
Gülsen: Was machst du?
Ich: Ich bin Schriftsteller.
Gülsen: Oh. Das ist schön. Ich bin Kellnerin.
Ich: Da kannst du viel sprechen.
Gülsen: Ich will etwas bewegen.
Ich: Das tust du doch.
Gülsen: Ich brauche Macht dazu.
Ich: Kellnerinnen haben viel Macht.
Gülsen: Ich werde Wirtschaftsminister. Mit Geld hat man Macht. Ich habe konkrete Pläne. Meine Entwürfe sind fast fertig. Sie bauen auf dem Kapitalismus.
Ich: Ja.
Gülsen: Möchtest du ein Fremdwort wissen? Ich habe immer ein Lexikon dabei, für den Fall, daß die Menschen, mit denen ich spreche, ein Wort nicht kennen.
Ich: Hmm...
Gülsen: Nur Mut.
Ich: Ich weiß grad' keins.
Gülsen: Wie wär's mit Altruismus?
Ich: O.K.
 Sie blätterte in ihrem Lexikon rum. Ihre Haare fielen ihr ins Gesicht, und plötzlich wußte ich, daß sie eine Gesandte war und nicht von dieser Welt. Sie trug eine silberfarbene Hose. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie einen Wirtschaftsminister mit einer silberfarbenen Hose gesehen.
 "Du solltest besser was anderes werden", schlug ich vor. "Du vergeudest dein Talent."
 Ich meinte das durchaus ernst, weil ich wirklich bezweifelte, daß man als Wirtschaftsminister etwas verändern konnte. Ich sah sie eher als Anführerin einer Rebellengruppe, mit einem Säbel in der Hand und wildem Blick, aber ich glaube, sie verstand mich falsch.
 "Ich werde Wirtschaftsminister", sagte sie, und ich hoffte, daß mir bis zum Beginn ihrer Amtsperiode noch etwas Zeit blieb. Ich hatte keine Lust, sie nur noch im Fernsehen, in Zeitungen und auf Plakaten zu sehen. "Gülsen Kaçar, der neue Wirtschaftsminister", würde dann auf den Titelseiten stehen, und vielleicht würde man sich darüber lustig machen, eine Frau als Wirtschaftsminister, dazu noch eine so schöne, ich hätte das nicht gewollt. Lieber hätte ich gewollt, daß sie Papst wird. Ich bin sicher, die Kirchen wären plötzlich gerammelt voll. Jeder würde ihr abnehmen, daß sie in der Lage ist, die Welt zu retten. Zumindest tat ich das.
 "Altruismus bedeutet Selbstlosigkeit, sich für andere aufopfern", sagte sie, und es waren noch zwei Stationen, dann mußte ich aussteigen.
 "Hast du Lust, dich um meine Finanzen zu kümmern?" fragte ich, weil ich dachte, daß das vielleicht eine gute Übung für jemanden sei, der Wirtschaftsminister werden will. Außerdem lag mein Kontostand weit im roten Bereich.
 "Ja. Warum nicht", sagte sie, ohne nachzudenken. "Ein Wirtschaftsminister ist genau das richtige, wenn die Finanzen nicht zum besten stehen."
 In diesem Moment brach der Himmel auf, und Regen platzte von allen Seiten gegen den Zug. Ich lächelte sie an wie ein unschuldiges Gebet und zog meine Jacke zu. Als ich ausstieg, hatte die Welt eine andere Farbe.

Der neue Wirtschaftsminister heißt Gülsen. Er ist 28 Jahre alt und hat immer ein Lexikon dabei. Ihr solltet das wissen, falls Ihr vorhabt, das Land zu verlassen. Es lohnt sich zu warten.